Die Forschung versucht bereits seit den 70er Jahren des vorletzten Jahrhunderts das Phänomen der Legasthenie (Schwäche beim Schriftspracherwerb) zu klären. Z.B. veröffentlichte der Neurologe Kussmaul, betroffener Vater, bereits 1877 seine Erkenntnisse zur "Wortblindheit".

Nach 120 Jahren mehr oder weniger Forschung weltweit durch verschiedene Mediziner, Psychologen und Pädagogen, ist es seit den 90er Jahren des letzten Jahrhunderts wissenschaftlich bewiesen, dass die Legasthenie in den meisten Fällen auf biogenetische Ursachen zurückzuführen ist und vererbt wird. Inzwischen hat man auch verschiedene daran beteiligte Chromosomen identifiziert, die sich aber nicht immer auswirken, daher spricht man von einer genetischen Disposition. Noch ist unklar warum diese nichts oder überhaupt und so unterschiedlich etwas bewirken, z.B. eine Entwicklungsverzögerung im Bereich Wahrnehmungsfunktion. Wichtig! Es gibt nicht den einen Grund, es sind vielfältige Ursachen wie Genetik, Strukturen, Chemie, Merken, Aufmerken, Sprechen, Hören, Sehen und Blicken. Mit Tests stellt man nur den status quo fest, in den seltensten Fällen kann man sagen wie es zu einer Auffälligkeit gekommen ist. Man kann nur den Grad der Abweichungen zur Norm feststellen und davon abhängig den Begriff der Teilleistungsschwäche bzw. -störung nennen.

Nach heutiger Schätzung sind ca. 10 - 15% der Weltbevölkerung betroffen, d.h.

! weltweit ca. 1 Milliarde Menschen,

! in Europa ca. 74 - 111 Millionen,

! in Deutschland ca. 8 - 12 Millionen,

! statistisch sind in jeder Schulklasse 1 - 2 Legastheniker.

Übrigens: Von Legasthenie sind 3 – 4x mehr Jungen betroffen.

Es ist eine grundlegende wissenschaftliche Erkenntnis, dass es sich bei der Legasthenie um andersartige Verarbeitungen von Sinneswahrnehmungen im Hirnstamm und in der Großhirnrinde handelt, die auf andersartige Gehirnstrukturen im Vergleich zum Bevölkerungsdurchschnitt zurückzuführen sind. Im Rahmen der Schriftsprache passieren ihnen Wahrnehmungsfehler, die fälschlicherweise für Rechtschreibfehler gehalten werden. Die Legasthenie bleibt ein Leben lang bestehen, kann i.d.R. aber durch pädagogische Förderung gemildert oder überwunden werden. D.h. die Betroffenen benötigen bei völlig normaler, sehr häufig überdurchschnittlicher bzw. weit überdurchschnittlicher Intelligenz lediglich mehr Zeit und eine andere Didaktik, um die anerkannten Kulturtechniken wie Lesen, Schreiben und Rechnen zu lernen. Dies wird noch einmal zusammengefasst in der nachstehenden Definition.

Pädagogische Definition
"Ein legasthener Mensch, bei guter oder durchschnittlicher Intelligenz nimmt seine Umwelt differenziert anders wahr, seine Aufmerksamkeit lässt, wenn er auf Symbole wie Buchstaben oder Zahlen trifft, nach, da er sie durch seine differenzierten Teilleistungen anders empfindet als nicht legasthene Menschen. Dadurch ergeben sich Schwierigkeiten beim Erlernen des Lesens, Schreibens oder Rechnens." Dr. Astrid Kopp Duller 1995

Es gibt nicht die Legasthenie, sondern jede Legasthenie ist individuell, bedingt durch die unterschiedliche Zusammensetzung und Ausprägung der differenzierten Teilleistungen.

Differenzierte Teilleistungen

Visuelle Wahrnehmung

  • optische Differenzierung, Fähigkeit geringfügige Unterschiede festzustellen

  • optisches Gedächtnis, Gesehenes behalten, Merkfähigkeit von bestimmten Formen, Mustern, Farben, Bildern, Gegenständen

  • optische Serialität, optische Eindrücke der Reihe nach ordnen, wissen welcher Buchstabe im Wort zuerst kommt

Auditive Wahrnehmung

  • akustische Differenzierung, Fähigkeit bestimmte Laute richtig aufzunehmen, Laute aus dem Hintergrund herauszufiltern

  • akustisches Gedächtnis, Fähigkeit Gehörtes zu behalten, wiederzugeben

  • akustische Serialität, hören welches Wort im Satz zuerst, welcher Buchstabe im Wort zuerst, Wortanfang, Wortende 

Raumwahrnehmung

  • Raumorientierung, Raum-Zeitgefüge, Größen, Einheiten einschätzen

  • Körperschema, eigenen Körper einschätzen rechts/ links

 

Trotzdem gilt nach wie vor die veraltete Klassifizierung der Weltgesundheitsorganisation, die Legasthenie im Diagnosesystem ICD-10 auch weiterhin als psychische Störung mit Krankheitswert im Sinne einer "umschriebenen Entwicklungsstörung schulischer Fertigkeiten" festlegt. Dieser Ansatz ist zunehmend fragwürdig, "da er kausale Zusammenhänge behauptet, die von den erhobenen Daten nicht gestützt werden." Dr.Iris Lippitsch Ludwig

Es wird verhindert, dass legasthene Menschen weltweit ein anderes und korrektes Ansehen gewinnen, fernab von "Krankheit", "Störung" und "Therapie". Außerdem führt es dazu, dass unsere Kinder zwecks Inanspruchnahme von Förderungen und Nachteilsausgleichen immer noch Tests im Rahmen der ICD-10 durchlaufen müssen. Finanzielle Unterstützungen seitens der Krankenkassen folgen dann wiederum aber nicht, da diese nicht für pädagogisch-didaktische Förderungen zuständig sind und Legasthenie weder eine Krankheit noch Behinderung ist. In diesem Zusammenhang finde ich persönlich die Bezeichnung "LerntherapeutIn" oder "LegasthenietherapeutIn" auch unglücklich gewählt, da diese zum Bild "legasthen = krank" beiträgt.

Wurde eine Legasthenie festgestellt, so wird unterschieden in

Primärlegasthenie
Es kommt durch die differenzierten Sinneswahrnehmungen und bildhafte Denkweise zu Problemen bei der Arbeit mit Symbolen wie Buchstaben und Zahlen. Durch gezieltes Training kann die Legasthenie gut überwunden werden. Das Kind lernt mit seiner Legasthenie umzugehen und wird nur etwas langsamer als andere das Lesen und Schreiben lernen. Manchmal wird die Legasthenie nur gemildert und je nach Ausprägung vielfach auch nicht behoben werden.

Sekundärlegasthenie
Es ist nicht selten, sondern sogar typisch, dass eine Primärlegasthenie unterschätzt oder gar nicht wahrgenommen wird. Das Kind erhält dann nicht die erforderliche Förderung und ist in einem Teufelskreis gefangen: Man sagt ihm, dass es sich mehr anstrengen und Mühe geben soll. Durch die ständige Überforderung, Frust, negative Erfahrungen kommt es dann zu psychischen Problemen. Es zeigt sich in Abwehrreaktionen, Trotz, sozialem Rückzug, Depressionen, Aggressionen und leider nicht selten auch im Suizid. Auch physische Beeinträchtigungen des Hörens/ Sehens verstärken die Situation. Neben einem gezielten Legasthenietraining sind dann außerdem psychologische oder medizinische Maßnahmen erforderlich.

Legastheniker fallen nicht nur durch ihre Probleme im Schriftsprachbereich auf, sondern oft auch vor allem durch verschiedene besondere Eigenschaften und Fähigkeiten.

Mögliche besondere Eigenschaften und Fähigkeiten

  • liebenswürdig, empfindsam

  • außerordentliches Feingefühl

  • Humor

  • soziale Kompetenzen

  • stur

  • eiserne Kompromisslosigkeit

  • erstaunlich gute Beobachtungsgabe

  • schnelle Auffassungsgabe

  • schnelle Denkprozesse

  • können zwei oder mehrere Gedanken gleichzeitig verfolgen

  • nehmen Vorgänge am Computer schneller auf

  • hervorragendes technisches und/ oder mathematisches Verständnis

  • hervorragende räumliche Vorstellungen

  • lernen über das Gehör, Ablage im Langzeitgedächtnis

  • lesen langsam, prägen es sich aber unauslöschbar ein

  • hohe Kreativität

  • gute Phantasie

Legastheniker haben einen besonderen und bildhaften Denkstil, der zwar Schwächen im Schriftsprachbereich mit sich bringt, durch den sie aber vor allem im technischen und kreativen Bereich Leistungen erbringen, die von Nicht-Betroffenen nur schwer bis gar nicht erzielt werden können (selbstverständlich sind aber nicht alle legasthenen Menschen ein "Einstein").

"...Their brains are better constructed for some skills needed in our modern times..." Tom Viall, Director "InternationalDyslexia Association"

"Die Genialität zum Nutzen der ganzen Menschheit liegt in der Legasthenie und ist in seinen besonderen und umfassenden Gedankengängen begründet." unbekannt

"Die andersartige Begabungsstruktur legasthener Menschen ist eine für das Überleben der Menschheit wichtige Normvariante. Legasthenie ist wie die Linkshändigkeit keine Anomalität, sondern ein Zeichen für besondere Begabungen im nichtsprachlichen Bereich. Die rechte Gehirnhälfte scheint von den Entwicklungshemmungen der linken Gehirnhälfte zu profitieren. Mathematisch-technische und musische Begabungen sind oft mit Legasthenie verbunden." Prof. Dr. Albert Galaburda, amerik. Neurologe

Klicken Sie hierzu bitte auch den Menüpunkt "Berühmte Legastheniker" an.

Woran kann man Legasthenie erkennen?
Können mindestens 5 der nachfolgenden Auffälligkeiten bejaht werden, so ist von einer bestehenden Legasthenie auszugehen und eine genauere Abklärung notwendig.

Lesen

  • häufige Fehler beim lauten Lesen

  • zahlreiche Selbstkorrekturen

  • langsames bzw. mühsames Erlesen von Wörtern

  • silbenweises Lesen von Wörtern

  • wortweises Lesen von Sätzen und Texten

  • Probleme bei der Verschmelzung von Einzellauten

  • Auslassung von Endungen

  • Auslassung von Wörtern

  • hat bei Zeilenverlust Probleme, die aktuelle Stelle wiederzufinden

  • hat Probleme bei der Sinnentnahme 

Lautfolgen

  • häufige Fehler beim Abschreiben

  • zahlreiche Fehler in Diktaten oder Aufsätzen

  • Verwechslung visuell ähnlicher Buchstaben (z.B.: "dlau" statt "blau")

  • Verwechslung von Buchstaben, die ähnliche Laute repräsentieren (z.B.: "krün" statt "grün")

  • Auslassung von Buchstaben, so dass sich die Klanggestalt des Wortes ändert (z.B.: "Apfe" statt "Apfel")

  • Auslassung von ganzen Wörtern und längeren Wortteilen (z.B.: "Fernseh" statt "Fernsehzeitung")

  • Vertauschung der Buchstabenreihenfolge (z.B.: "Fabirk" statt "Fabrik")

  • häufige Fehler aufgrund der Nichtbeachtung bestimmter Rechtschreibregeln (z.B.: "Bager" statt "Bagger")

  • wenig/ kein Verständnis für Reime  

Gesprochene Sprache

  • verwaschene Artikulation

  • stockendes Sprechen

  • Wortschatzarmut

  • Wortfindungsstörungen

  • häufige Bildung von grammatisch bzw. syntaktisch inkorrekten Ausdrücken 

Motorik

  • allgemeine Ungeschicktheit

  • verkrampfte Schreibhaltung  

Schrift

  • undeutliches Schriftbild

  • schreibt über den Zeilenrand hinaus

  • schreibt nicht auf der Zeilenlinie

  • langsames Schreiben

  • Schreibhemmung 

Merkfähigkeit

  • geringe auditive Merkfähigkeit (z.B. beim Vokabel-lernen,1x1)

  • geringe visuelle Merkfähigkeit (z.B. beim Einprägen von neuen Wortbildern)

  • geringe Merkfähigkeit von Reimen/ Liedern, obwohl ansonsten hohe Merkfähigkeit

  • mangelnde Raum und/ oder Zeitkoordination, d.h. es fällt schwer Wochentage, Jahresablauf, Uhrzeiten zu lernen  

Verhaltensauffälligkeiten

  • Unruhe, Hyperaktivität (nur beim Lesen, Schreiben und unterscheidet sich dadurch von krankhafter Unruhe, fälschlicherweise oft mit ADHS verwechselt)

  • Verträumtheit, scheint zeitweise abwesend zu sein (nur beim Schreiben, Lesen und wird aber dennoch oft mit ADS verwechselt)

  • Konzentrationsschwäche

  • geht Anforderungen aus dem Weg

  • wird mit Aufgaben nicht fertig

  • schaut erst wie die Mitschüler vorgehen, fängt dann erst an, schreibt ab

  • "plötzlich" geht nichts mehr (aufgrund guter oder überdurchschnittlicher Intelligenz gelang es längere Zeit mit dem Schulstoff trotz großer Probleme im Schreiben/ Lesen mitzuhalten)

  • reduziertes Selbstwertgefühl

  • Schulangst

  • Aggressivität

  • Clownerie

  • Andere psychosomatische Störungen
     

Es treten Legasthenie und Dyskalkulie isoliert auf. Oft besteht aber eine Legasthenie auch gemeinsam mit einer Dyskalkulie.
 
Förderung
Eine Förderung ist unerlässlich, da es sonst aufgrund der fehlenden Grundvoraussetzungen, d.h. Lesen und Schreiben, in allen Fächern zu Schwierigkeiten führt. Misserfolgsorientierung und Schulversagen sind die Folge. Psychische Folgen bleiben nicht aus.

Ein bloßes Üben an den Symptomen wird aber keinen Erfolg bringen. Legastheniker benötigen Lehrmethoden, die ihnen alles bildlich und dreidimensional bringen, mehr Vertiefung als gewöhnlich und mehr Zeit. Die Förderung muss in allen drei Bereichen erfolgen:
  • Training an der Aufmerksamkeit

  • Training der Schärfung der Sinneswahrnehmungen

  • Training an den Symptomen 

Deutschnachhilfe ist kein Legasthenietraining!

Sehr hilfreich für diese Menschen ist vor allem aber die Kenntnis und das Verständnis für das Phänomen Legasthenie und das damit veränderte Verhalten der Umwelt. Insbesondere ist der Rückhalt in der Familie sehr wichtig. Kurzfristige Veränderungen sind nicht zu erreichen. Es wird dem Kind viel Druck genommen, wenn es von der Familie trotz schlechter Leistungen und nur kleinen Fortschritten mit Mut und Zuversicht unterstützt wird. Treten durch die Belastung sekundär psychische oder physische Probleme auf, so sind außerdem psychologische oder medizinische Maßnahmen erforderlich.

"Dadurch, dass die Betroffenen sich als Bilderdenker erkennen und ihnen mögliche familiäre Hintergründe bewusst werden, können sie aus einer selbstbewussten Perspektive die Entwicklung des eigenen Talents angehen. Aus der vermeintlichen Behinderung wird so ein großes Geschenk für das Leben." Peter Classen

Aussichten
Für das Training der individuellen Probleme der Legasthenie wird oftmals sehr viel Geduld und Ausdauer von den Betroffenen abverlangt. Es tut gut bewusst zu machen, dass aber gerade aus dieser "Situation der Schwäche" neue Stärken entstehen können, die eine Vielzahl der Nicht-Betroffenen, die es ggf. leichter hatten, so nicht entwickelt haben:

  • Lernen gelernt

  • kann Strategien entwickeln, um Ziele zu erreichen

  • kann die Zeit so einteilen, dass Ziele erreicht werden

  • Selbstreflektion der eigenen Arbeit

  • hohe Arbeitsbereitschaft

  • Durchhaltevermögen, auch wenn es schwer ist

  • Teamarbeit gewohnt

  • in der Lage sich ein Netzwerk aufzubauen

  • einfühlsam für Stärken/ Schwächen anderer

  • Bewusstsein über die eigenen Stärken/ Schwächen

  • Kritikfähigkeit

   
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